Oral history

Das biographische Interview in Volkskunde und Oral History 

Der Ausgangspunkt des digitalisierten Projektes: „Tondokumente“ des „Forum Plattdüütsch Heidekreis“ aus den Jahren 2015/16 lag auf der Dokumentation der alltagssprachlichen Verwendung des Plattdeutschen. Angestrebt wurde ein Abbild der ortstypischen Dialekte sowie deren Vielfalt in der Region. Im Zentrum der Sammlung stand nicht die inhaltliche Auswertung der Interviews, wie sie sich beispielsweise im Rahmen sprachwissenschaftlicher oder ethnographischer Fragestellungen anbietet. 

Für das Mittel des autobiografischen Interviews (nicht mit dem Ansatz, diese als wissenschaftliche Methode anzuwenden) entschied man sich, da man so einer spontanen Alltagsverwendung der Sprache am nächsten kam. Die Interviewer führten ihr Gegenüber in der Regel sehr zurückhaltend, um Inszenierungen innerhalb der Aufnahmesituation so gering wie möglich zu halten. Den interviewten Personen war der Gegenstand ihrer Erzählungen freigestellt ebenso wie der Umfang ihres Beitrags. Daraus ergab sich in der Summe eine Vielfalt an Themen, historischen, kulturellen und biografischen Schwerpunkten.  

Die hier gewählte Methode des biografischen Interviews wird als Mittel zur Datengewinnung sowohl im Bereich der Oral History als auch im Bereich der Volkskunde angewandt. Die Aufzeichnungen werden möglichst wortwörtlich in Schrift übertragen und finden ihren Platz in Interviewsammlungen, in Archiven und können meist mittels Verschlagwortung durchsucht werden. Es gilt als hermeneutisches Verfahren bei der Dokumentation zu Lebens- und Sozialgeschichte und lokaler Geschichte. Es wird jedoch in beiden Disziplinen in den Bereichen unterschiedlich verwertet und interpretiert.  

Oral History 

Im Bereich der Oral History erzählen Zeitzeugen frei und so wenig wie möglich geführt, am besten gar nicht, aus ihrem und über ihr Leben. Es handelt sich dabei um eine mündliche erzählte Lebensgeschichte, die als Ton- oder Videoaufzeichnung dokumentiert wird. Zum Aufnahmezeitpunkt ist eine historische Fragestellung an die Quelle zunächst nicht von Belang. Die Quelle wird erst durch die späteren historischen Fragestellungen an das Erzählte untersucht und interpretiert.  

Der Interviewer wählt einen möglichst offenen Einstieg und der Zeitzeuge/die Zeitzeugin wählt ihren Themenschwerpunkt aus. Er/Sie ordnet die eigenen Lebensabschnitte gemäß ihrer/seiner eigenen Hierarchie ein. Der Zeitzeuge/die Zeitzeugin entscheidet selbst, was im Einzelnen erzählt wird.  

Dabei sind besonders seine/ihre emotionalen Standpunkte von zentraler Bedeutung. Denn dies sind Informationen, die in anderen Geschichtsquellen so nicht vorkommen. Der Zeitzeuge/die Zeitzeugin ist dabei meist versucht, sich möglichst positiv darzustellen. Für den Umgang mit den Quellen bedeutet dies jedoch, dass Weglassungen und Prioritätensetzung des Erzählten zwingend berücksichtigt werden und immer im Zusammenhang mit anderen Geschichtsquellen interpretiert werden müssen. Die Quelle muss kritisch behandelt werden. 

Es handelt sich keineswegs um die vollständige Schilderung der Ereignisse. Die Interviewten verdrängen, vergessen, konstruieren, deuten Erlebtes um. Einiges wird verschwiegen, weil es zu privat, brisant oder intim für die Person ist, um diese Informationen zu teilen. Die zwischenzeitliche Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und der durch die eigene Lebensgeschichte gewonnen neuen Erkenntnisse und Bewertungen des Erlebten, überlagern vergangenen Erlebnisse und interpretieren diese neu. Daher ist die Deutung der Ereignisse in der Gegenwart durch die Person mindestens ebenso relevant in der Beschäftigung mit dem Gesagten wie das Erlebte selbst. 

Für jeden/jede, der/die sich also mit den Quellen beschäftigt, steht vor allem die Sichtbarmachung der Selbstdeutung der Person im Zentrum. Dabei spielt zudem das kollektive Gedächtnis vom Bild der Vergangenheit eine Rolle (Maurice Halbwachs). Dies wird geprägt durch eine innere und äußere Zensur der Einzelnen.  

Es handelt sich also nicht um geschichtliche Fakten, es zeigt die Alltagsgeschichte. Der Gegenstand verlangt, sich ihm mit Misstrauen zu nähern, gerade wegen der Subjektivität und Manipulationsmöglichkeiten beim Gesagten. Die Sekundäranalyse ist dringend notwendig, um das Gesagte verlässlich einordnen und bewerten zu können. 

Zudem ist eine kritische Auseinandersetzung mit Begriffen wie Zeitzeuge, Gedächtnis und Erinnerung sinnvoll. 

Gerade der Begriff der Erinnerung ist dabei von zentraler Bedeutung, denn diese ist weder statisch noch objektiv. Erinnerung ist ein subjektives und produktives Verfahren, das durch später hinzukommendes, gesammeltes Wissen beeinflusst und verändert wird. Erinnerungen sind immer rekonstruierte Erfahrungen und Erlebnisse, die einer Inszenierung unterworfen werden.  

„Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.“ Jean Paul 

Volkskunde 

Im Bereich der Volkskunde kommen biografische Interviews seit den späten 1970er Jahren (R. Schenda/R. Wilhelm/A. Lehmann) im Bereich der systematischen, volkskundlichen Biographieforschung zum Einsatz. Das alltägliche, autobiographische Erzählen, das biografische Interview ist somit eine Methode volkskundlicher Feldforschung.  

Gab es früher eine Unterscheidung zwischen der Verwendung der biografischen Methode in der Volkskunde und Oral History, so ist ihre Verwendung heute fließend. Beide Disziplinen haben die Lebensgeschichte von Menschen zum Untersuchungsgegenstand. Dennoch ist eine Unterscheidung sinnvoll.  

Im Bereich der Oral History (die ihren Ursprung in der amerikanischen Geschichtswissenschaft hat) sollen mit Hilfe der biographischen Methode Ausschnitte und Ereignisse der jüngeren Zeitgeschichte, auch mit einer politischen Komponente versehen, dargestellt werden. Das Biographische Interview in der Volkskunde hingegen sollte die vollständige Lebensgeschichte wiedergeben. 

Heute 

Wenn thematische (themenzentrierter Ansatz) oder zeitliche Ausschnitte (totalbiographischer Ansatz) im Mittelpunkt stehen, ist das biografische Interview dem Bereich der Oral History zuzuordnen. Es geht dann um die Verarbeitung historischer Ereignisse und Erlebnisse und um die Veränderung der Selbstbeschreibung der Person. Die Daten werden ausgewertet und interpretiert. Es erfolgt eine quantitative Analyse. Hierdurch sollen Durchschnittswerte ermittelt werden. Es geht vornehmlich um die Sichtbarmachung von Strukturen, um objektiv-zählbare Einheiten in individuell-subjektiven Äußerungen. 

Sollen Einzelaspekte vor dem Hintergrund der geschlossenen Lebensgeschichte betrachtet werden, erfolgt der Einsatz im Bereich des volkskundlichen, biografischen Interviews. Hier geht es um eine qualitative Analyse. Die individuelle Äußerung hat bereits ein Erkenntnispotential. Die Subjektivität gewährt einen Einblick in den individuellen Prozess des einzelnen Menschen, im Hier und Jetzt aus dem Erlebten Wirklichkeit zu konstruieren und sich seiner Selbst zu versichern. Es zeigt ein dynamisches Geschehen. 

Mögliche Fragestellungen an das Tonmaterial 

Mit dem Wissen um die geschichtliche Epoche, in der die Interviewten aufwuchsen und lebten, sind die Weglassungen in den Erzählungen sicher von großem Interesse, wenn man nach historischen Fragestellungen schauen will. Betrachtet man dabei zugleich die damalige Fragestellung der Erhebung nach dem Gebrauch des Niederdeutschen als Alltagssprache, scheinen die Interviewten dafür Erlebnisse und Situationen auszuwählen, die für den Gebrauch, oder eben auch den Nichtgebrauch, der niederdeutschen Sprache relevant sind. Sie erzählen von Kindheit und Jugend, von der Schule, ihrem Beruf/berufliches Umfeld, von Orten und Personen, die für die Verwendung niederdeutscher Sprache als Nahsprache kennzeichnend sind. 

In dieser Hinsicht lohnen sich sicherlich weitere Detail-Untersuchungen des vorliegenden Tonmaterials.  

Eine Fragestellung nach dem Zusammenhang von verwendeter Sprachform und deren Status kann hier lediglich angerissen werden: Welche Rolle spielt Sprache bei der Erinnerung, und wie werden durch Sprache Erinnerungen sichtbar oder unsichtbar? Macht es einen Unterschied, ob Personen in Umgangs-/Alltagssprache von ihren Erinnerungen erzählen? In ihrer Muttersprache, ihrem Dialekt, Hochsprache oder Sprache der Kindheit? Werden unterschiedliche Inhalte oder/und Schwerpunkte wiedergegeben? Wird unterschiedlich erinnert, bewertet, erzählt? 

In unserem Projekt ist der Umgang mit den Quellen von strukturell-sprachlichem, dialektologischem Interesse geprägt. Es geht bei der Dokumentation und Verwendung der Quellen im Rahmen des PLATO-Archivs nicht um ein inhaltlich-historisches Interesse. Die Vorgabe bei der Erhebung der Quellen war, etwas in niederdeutscher Sprache aus dem eigenen Leben zu erzählen. Die Erzählmotivation der Befragten war primär die Verwendung von Sprache und dabei wurde auch eine autobiographische Auskunft gegeben.